Liebe Freundin…
ich spüre, ich stehe an einem wichtigen Entscheidungspunkt in meinem Leben.
Eine Weggabelung, wie du es nennst.
Der eine Weg ist altbekannt. Kein übler Weg. Geradlinig, keiner auf dem ich mehr ins Schwitzen gerate. Für die leichten Höhen und Tiefen bin ich bestens trainiert.
Die Umgebung, die mich einst so faszinierte, schafft es jedoch kaum mehr mich aus der Fassung zu bringen.
Und wenn ich ehrlich bin, liebe ich genau das, aus der Fassung gebracht zu werden. Überrascht zu werden, von den Wellen wild hin und her gerissen. Ich weiß, es wäre dein Albtraum. Aber diese Gegensätze machen uns aus, oder?
Der andere Weg liegt im Nebel. In Ansätzen nur kann ich erkennen, wie er sich den Berg hochzüngelt. Alles andere wird vom Nebel verschluckt.
Wenn ich nachts wach im Bett liege, was zur Zeit häufiger vorkommt, habe ich viele Ideen, wie es dort, hinter dem Nebel, aussehen könnte.
Mein erster Gedanke war eine Erinnerung. Ich musste an Walt Disney´s „Die Schöne und das Biest“ denken. Belle´s Vater, wie er auf seinem treuen Pferd Philippe durch einen dunklen Wald irrt, auf dem Weg in die Stadt, wo er seine große Erfindung verkaufen will. Auch er befindet sich in einer Szene zu Anfang des Films an einer Weggabelung. Zuhause vor dem Fernseher beiße ich jedes Mal in mein Sofakissen, wenn er sich völlig irrsinnig dafür entscheidet den düsteren Weg einzuschlagen, wo ein Uhu bedrohlich ruft, anstatt den heiteren und sonnigen Weg zu nehmen, bei dem die Vögel zwitschern, als würden sie gleich herbeifliegen, um ihm in seinen Mantel zu helfen. Selbst Philippe´s Proteste halten ihn nicht davon ab, tiefer in den Wald und in sein eigenes Unheil zu reiten.
Aber war es letztendlich tatsächlich die falsche Entscheidung? Ich meine, bereits eine Stunde und viele verstörende Momente später (mal ehrlich, sprechendes Mobiliar und eine Liebesgeschichte, die stark ein Stockholmer Syndrom vermuten lässt?) tanzen alle glücklich und zufrieden, verliebt und steinreich durch einen unverschämt glänzenden Ballsaal.
Mein absoluter Lieblingsfilm, auch wenn ich mir den Sarkasmus nicht verkneifen kann.
Was ist also die richtige oder die falsche Entscheidung?
Wie kann ich erkennen, was sich im Nebel versteckt? Welche Gedanken, die mich nachts wach halten, helfen mir den Nebel zu lichten? Und davon habe ich viele. Gedanken, die mein Abenteurerherz höher schlagen lassen und Gedanken, die mich einfach nur beängstigen. Und ich schätze beides. Denn unsere Ängste beschützen uns doch auch, oder?
Doch ebenso können sie so unfassbar penetrant sein, blockieren einem die Sinne und rauben einem den Verstand. Für unsere Vorfahren war diese Dominanz sicherlich von großem Vorteil. Wenn nun eine Steinzeitfamilie gemütlich beim ‚Mensch-ärgere-Dich-nicht‘-Spiel zusammensaß und voller Glücksgefühle das familiäre Zusammensein genoss, war es sicherlich hilfreich, dass sich die Angst über den Frohsinn schob, wenn der Säbelzahntiger plötzlich im Eingang der Höhle stand.
Doch heute?
Meinen Patienten würde ich voller Überzeugung erklären, dass all ihre Gedanken ausschließlich in ihrem Kopf stattfinden und somit zunächst kaum etwas mit der Realität zu tun haben. Ich würde ihnen erklären, dass noch so viele Gedanken ihnen nicht die Zukunft zeigen werden. Zumindest nach meinem Wissensstand, ich bin natürlich offen für neue Erkenntnisse.
Ich würde ihnen sämtliche achtsamkeitsbasierten Übungen präsentieren, die sie dabei unterstützen würden, ihre Gedanken zu stoppen, um mal wieder in einen erholsamen Schlaf zu finden, der sie zumindest dazu befähigt, einen klaren Kopf zu bewahren. Und nun muss ich feststellen… ich selbst wäre wohl ein äußerst anstrengender Patient. Voller Skepsis und tausend Ausreden, warum doch alles überhaupt nichts bringt. Wow.
Und nun?
Nun stehe ich noch immer hier, an der Gabelung meines Lebens und bin müde geworden von meinen Gedanken. Aber ich halte dich auf dem laufenden…