Liebe Freundin…
ich fühle mich reich. Dabei ist mein Konto leer. Vor allem nach dem letzten Campari Spritz, den ich an einem sonnigen Nachmittag in einer Rooftop-Bar eines Hotels mitten in Berlin genossen habe. Aber es war herrlich. Ich liebe die Nähe zum Himmel. Über den Dächern der Stadt zu sein. Das hat mich schon immer fasziniert. Als Kind wäre ich gerne mit den Schornsteinfegern unterwegs gewesen. Zwischendurch auf den Dächern ein Tänzchen wagen wie Marry Poppins‘ Freund „Bert“ es tat. Und letztendlich das Glück in die einzelnen Häuser zu tragen. Wie wundervoll. Vielleicht schreibe ich das direkt auf meine Berufswunschliste. Wieviel der Campari letztendlich gekostet hatte, weiß ich gar nicht. Dass es eine Menge gewesen sein muss, hörte ich erst bei anderen Gästen, die sich entsetzt abwanden nachdem sie auf die Getränkekarte geschaut hatten und zurück in den Aufzug wieder nach unten auf die Erde steuerten. Offensichtlich war es diesen Menschen den Preis nicht wert. Mir schon. Dieses Erlebnis hätte ich nicht missen wollen. Einen zweiten hätte ich mir ebenso wenig leisten können, aber mein Sitzfleisch hätte es auch nicht zugelassen. Mich hat es hinaus ins Getümmel getrieben. Und da traf ich sie wieder. Die Fast – Barbesucher. Hängen geblieben an dem Schaufenster einer kleinen Boutique mit wunderschön leuchtenden Kleidern, die mich ganz und gar nicht interessierten. Was ein Glück. Dafür hätte ich nun wirklich kein Budget mehr. Doch diese Menschen hatten nun endlich das gleiche Glück in den Augen, wie ich vorhin auf dem Dach. Und ich freue mich für sie, da ich weiß, wie herrlich es sich anfühlt.
Warum fühle ich mich also reich?
Tief in meinem Inneren weiß ich es. Habe ein Gefühl dafür entwickelt nach all diesen Fragen, die ich die letzten Jahre an mich selbst gerichtet habe, um mich und meine innersten Bedürfnisse besser kennenzulernen.
Weil ich mich frei fühle. In Bewegung bin. Dort sein kann, wohin der Wind und mein Leben mich tragen. Alles Dinge, die ich erst viel später im Leben erkannt habe, dass sie mir wichtig und meine innersten Bedürfnisse sind. Und dafür reicht mein Geld allemal. Dafür gebe ich es auch aus. Nicht für mehr, aber auch nicht für weniger. Dafür verzichte ich auf vielerlei Dinge. Doch in Wirklichkeit sind dies alles Dinge, die mir persönlich nichts bedeuten. Fast mein ganzes Mobiliar (mit dem ich fleißig spreche) habe ich von Menschen geschenkt bekommen, die ohnehin keine Verwendung mehr dafür hatten. Täglich erinnert es mich nun daran, wie reich ich an wundervollen Menschen in meinem Leben bin. Jahrelang habe ich in Teilzeit gearbeitet, um meinem tiefsitzenden Wissensdurst nachzukommen und jegliche Seminare zu besuchen, die mich neugierig machten. Das alles machte mich wiederum so glücklich, dass es mir nie wie Verzicht vorkam, wenn es am Ende des Monats mal wieder zu Notständen kam und ich Restaurantbesuche mit Freunden ausschlagen musste. Ich fühlte mich von jeher reich. Ob ich mich reicher fühlen würde, hätte ich zusätzlich mehr Geld, weiß ich nicht. Natürlich fällt mir eine Menge ein, wie ich es ausgeben könnte, darin bin ich richtig gut. Ob es jedoch meinen innersten Bedürfnissen entspräche und mich somit glücklicher machen würde, ist nur schwer vorstellbar und wage ich zu bezweifeln. Wieviel müsste ich außerdem haben von diesem Papier, das wir Geld nennen und dem wir eine so gewaltige Bedeutung zumessen, damit ich mich allgemeingültig als reich bezeichnen dürfte? Wieviel luxuriösen Plunder müsste ich mir anschaffen, um auch nach außen hin so zu wirken und anerkannt zu werden? Welchen Job müsste ich machen? Ganz sicher sogar müsste ich den Schornsteinfeger direkt wieder von der Liste streichen. So glücklich ich beim Tanzen über den Dächern wäre, gibt es mir nach außen womöglich nicht die erwünschte Anerkennung.
Oder sind wir genau dann reich, wenn wir unsere innersten Bedürfnisse kennen, unser Leben danach ausrichten und das machen, was uns Freude bereitet, egal wieviel Papier wir dadurch im Geldbeutel haben, solange es für uns persönlich reicht? Und es uns vor allem gelingt, uns von den Bewertungen der anderen darüber freizumachen?
Und ich frage mich wie wunderbar es wäre, hätten alle Menschen Zugang zu ihren wahren Talenten, die jeder in sich trägt und die sich als Kinder noch so präsent zeigen, während sie im Laufe des Erwachsenenalters immer mehr durch Glaubenssätze und Erwartungen durch andere und an uns selbst verdeckt werden. Um dann einen Beruf zu wählen, der zu uns passt. In dem wir ohne Zweifel auch gut wären, denn es entspräche ja unseren Talenten. Der Wunsch über den Dächern zu sein würde in meinem Fall bedeuten, dass ich neben dem Schornsteinfeger, ebenso als Barkeeperin in meiner geliebten Rooftop-Bar anheuern könnte, mich als Fotografin auf Dächer spezialisieren oder Fenster in hohen Höhen von außen putzen könnte. Wobei letzteres womöglich meine Höhenangst nicht zulassen würde. In jedem Fall wäre ich jedoch täglich ange-reich-ert.
Und ich frage dich liebe Freundin, wann fühlst du dich reich?
Mein Opa hätte wahrscheinlich einen noch ganz anderen Ansatz. Wirklich reich sind wir dann, wenn wir gesund sind. Ein Glück also, dass ich mir den zweiten Campari nicht leisten konnte.