Liebe Freundin…
heute feiere ich mich selbst.
Nicht etwa, weil ich Geburtstag habe, nein. Und mal ehrlich, an diesem Tag sollte eigentlich auch mehr meine Mutter hoch gelobt werden. Ich sollte ihr umgekehrt ein Geschenk machen. Einfach dafür, dass sie mich unter den unwürdigsten Umständen und den Schmerzen ihres Lebens auf diese wundervolle Welt gebracht hat. Was für ein Wahnsinn. Und du musst es wissen. Du hast es gleich zweimal knallhart durchgezogen. Was bist du nur für eine starke Frau.
Auch sonst habe ich zur Zeit nichts vollbracht, was in unserer Gesellschaft einer Feier würdig wäre. Ich feiere trotzdem. Einfach, dass ich da bin. Und das schon eine ganze Weile. Tag für Tag, Stunde um Stunde. Ich atmete bereits Millionen Atemzüge. Zuerst gehe ich also in die Buchhandlung und atme den herrlichen Duft neuer Bücher ein. Stecke meine Nase so tief in die Seiten, dass ich verunsichert bin, ob ich es nun aus hygienischen Gründen kaufen müsste. Ich lege es frech zurück. Heute ist mein Tag.
Ein ‚Aperol Spritz‘ muss es jetzt sein. Goldenes, italienisches Glück. Wenn ich all meine ‚Spritzes‘ in ein Gefäß zusammenkippen würde, die ich im Laufe meines Lebens bereits getrunken habe, hätte ich wahrscheinlich einen mächtigen Wasserschaden, da es bereits vor Jahren übergelaufen wäre. Ich weiß du teilst diese Liebe nicht mit mir, aber meine reicht sowieso für uns beide. Diese Beziehung besteht schon so lange, ist felsenfest und hat schon einige Konkurrenten aus dem Rennen geschlagen. Ich bin überzeugt, sie hält für ewig. Zum Leidwesen meiner Leber. Sie zeigt sich noch unverständiger über diese Zuneigung als du. Fairerweise muss man sagen, dass es für sie aber auch eine Menge Arbeit bedeutet.
Also bedanke ich mich bei ihr. Und ich tue es wirklich. Denn darum geht es doch bei meiner Feier. Dankbar zu sein für mich selbst, und meine Leber gehört unweigerlich zu mir. Und auch sie arbeitet unaufhörlich Tag für Tag. Hat bereits schweißtreibende Abende mit mir erlebt, während ich goldschimmernd durch die Nacht tanzte. Und wenn ich schon dabei bin, danke ich auch gleich noch meinem Darm. Denn das Lokal, in das es mich gezogen hat, führt nicht nur mein Lieblingsgetränk, sondern auch fantastische Zimtschnecken. Und heute kann und will ich nicht darauf verzichten. Vor allem, weil man erst ab 10€ mit der EC-Karte zahlen kann und ich mir den Weg zur Bank sparen wollte.
Natürlich werde ich mich morgen wieder um meine hart arbeitenden Organe kümmern. Spinat, Süßkartoffel und Kurkuma warten bereits daheim in meiner Küche, um verzehrt zu werden. Aber heute nicht. Heute schlage ich über die Stränge. Heute bin ich auch dankbar für meine Beine, die mich tagtäglich durchs Leben tragen. Und ich schäme mich ein bisschen, dass ich die meiste Zeit nicht besonders liebevoll über sie spreche. Und meine Beine sind nicht das einzige Opfer meiner zeitweisen Missbilligung.
Bei diesem Gedanken bekomme ich ein schweres Gefühl in meiner Magengrube. Und der Grund dafür ist nicht die Zimtschnecke. Vielleicht wäre es an der Zeit zukünftig etwas freundlicher zu sein. Zu diesem Menschen mit dem ich verbunden bin, bis tatsächlich der Tod uns scheidet. Zu mir selbst. Und dieser Gedanke gefällt mir. So gut, dass ich plötzlich nicht anders kann, als zu lächeln. Und auf meinem Weg nach Hause kann ich nicht damit aufhören. Ich denke der Aperol trägt vermutlich auch seinen Teil dazu bei. Und es ist erstaunlich. Denn die Leute, die mir begegnen lächeln zurück. Danke ihr lieben Spiegelneuronen. Dank euch fühlt es sich an, als feierten die Leute mit mir.
Zuletzt entdecke ich eine alte Dame im Park. Sie sitzt im Rollstuhl, die Beine in eine Decke gewickelt. Zusammen mit ihrem Buch hat sie sich in die Sonne gerollt. Dort sitzt sie, liest in ihrem Roman, so wie ich ein Lächeln im Gesicht. Und ihr Anblick berührt mich. Und plötzlich wird mir klar, das Glück liegt in den kleinen Dingen. Und irgendwie wusste ich das bereits. Habe es schon etliche Male auf diversen Postkarten gelesen. Doch dieses Mal kann ich es fühlen. Und diese kleinen Dinge sind jeden Tag eine Feier wert. Ich hoffe nur, meine Augen bleiben geöffnet und ich werde sie weiterhin erkennen. Auch ohne Aperol Spritz.