Liebe Freundin…

ich fühle mich im Flow… habe den Rubikon fast überschritten, die Würfel schweben noch in der Luft, aber sie sind kurz davor von der Schwerkraft überwältigt zu werden und zu fallen.

Ich sagte dir, ich möchte aus der Fassung gebracht werden, von den Wellen hin und her gerissen… so soll es sein. Ich rüste mich für den Weg im Nebel, habe Mütze, Handschuhe und eine Taschenlampe gekauft, in der Hoffnung, dass ich mich für das richtige Survival kit entschieden habe und sich nicht herausstellen wird, dass der Bikini doch die bessere Wahl gewesen wäre.

Aber dieses Risiko werde ich wohl eingehen müssen. Und wenn ich recht darüber nachdenke, wer sagt überhaupt, dass ich letzten Endes nicht auch meine Handschuhe und Mütze zu einem passenden Schwimmoutfit umfunktionieren kann? Okay, wenn ich ‚noch rechter‘ darüber nachdenke, könnte das tatsächlich schwierig werden, aber zur Not blende ich alle mit meiner Lampe und springe nackt ins kühle Nass.

In jedem Fall ist es mir gelungen, eine gewisse Leichtigkeit wiederzuerlangen und einen gesunden Optimismus zu entwickeln. (Kleiner Exkurs: Optimismus heißt rückwärts gelesen: Sumsi mit Po. Herrlich, oder?) Ich habe entschieden, mich nicht mehr durch meine eigenen Befürchtungen und Gedanken zu begrenzen und einfach loszumarschieren.

Bis heute Morgen mein innerer Kritiker angeklopft hat. Während ich auf der Welle geritten bin, hat er sich meine wilden Ideen und Gedanken in Ruhe angeschaut, um mir nun sein gnadenloses Resümee entgegen zu schmettern.

Perfektionismus war schon immer ein Teil von mir. Nicht in jeder Lebenslage, mein Haushalt zum Beispiel wüsste nicht wovon ich spreche und wäre sich sicher, es handle sich hierbei um eine eindeutige Verwechslung. Meine Kollegen hingegen wären sich sicher einig. Meine Ansprüche sind hoch und ich möchte ihnen genügen, nicht mehr und vor allem nicht weniger.

Woher das kommt ist schwer zu sagen. Neben einer genetischen Disposition, die mir wahrscheinlich eine gewisse emotionale Labilität beschert hat, könnte ich sicherlich einige Indizien in meinem damaligen Elternhaus aufspüren. Während mein Vater, der mir als Kind als großes Vorbild diente, selbst einen leichten Hang zum Perfektionismus hat, machte sich meine Mutter häufig liebevoll Sorgen, wie es um meine berufliche Zukunft stehen könnte. Auf jeden Fall unabhängig sollte ich sein.

So ging ich nun durch die Welt und hielt Ausschau nach der absoluten Vollkommenheit in mir selbst und meinen Leistungen. Dabei ging ich äußerst fehlersensibel vor, denn Fehler als einen Lernprozess zu sehen, fiel mir schon immer etwas schwer. Sie dagegen auf meine persönliche Unfähigkeit zu schieben schon leichter. Und neben all dem schien ich tief in mir eine Überzeugung zu haben, die mir in solchen Fällen leise oder manchmal auch lauter ins Ohr flüsterte, dass ich mit all meinen Fehlern vielleicht doch nicht genug sein könnte und damit auch keine Zuwendung verdient hätte. Also, ran an den Speck und Leistung bringen!

So passiert es mir auch heute noch manchmal, dass ich eine von zwei Strategien fahre. Entweder stürze ich mich in die Arbeit oder neige dazu manche Aufgaben einfach zu umgehen, die mir misslingen könnten.

Aber ich wäre nicht ich, hätte ich mich dieser Tatsache nicht angenommen und versucht sie mit aller Kraft anzugehen. Mit viel Fleiß, Konsequenz und voller Disziplin… okay liebe Freundin, jetzt merke ich es selbst. ;-)

In Wahrheit durchlief ich einen wundervollen Prozess und mittlerweile weiß ich, dass ich mehr als meine Leistung bin und mein Perfektionismus auch eine Stärke von mir ist. Nämlich dann, wenn es mir gelingt meine Fehler als Teil meines Lernprozesses zu sehen und ich somit nach einer gesunden Exzellenz streben kann. Um das zu erreichen hatte ich Menschen, die mich angehört und großes Interesse daran hatten, wie ich mich wirklich fühlte. Sie waren es auch, die mir aufgezeigt haben, dass es noch andere Quellen im Leben gibt, durch die man sich wertvoll fühlt. Durch sie habe ich Urvertrauen. Und du bist natürlich eine davon.

Erst neulich hatte mir mein Wasserkocher nach mindestens fünf langen Jahren der Treue den Dienst verweigert und das nur kurz nachdem ich ihn dafür gelobt hatte, was für ein beständiger Begleiter er doch war. Zunächst ist dazu zu sagen, dass ich erstens nie wieder meine Haushaltsgeräte loben werde und zweitens ja, ich spreche mit meinem Mobiliar. Vielleicht ein weiteres prägendes Überbleibsel von „Die Schöne und das Biest“, ich hätte den Film wirklich nicht so häufig schauen dürfen. Heute habe ich ein neues Gerät. Glänzend und irgendwie etwas überheblich wirkend zwischen meiner Mikrowelle aus den Neunzigern und einem alten Brotkorb. Aber dennoch absolut schick. Leider mit einer Funktionsstörung. Sollte er doch piepsen, wenn er die passende Gradzahl erreicht hat, was mal mehr und mal weniger klappt. Doch als verantwortungsvolle Wasserkocherbesitzerin gelingt es mir mittlerweile, meine eigene Haltung bezüglich meines Leistungsdenkens zu überprüfen, um keine falsche Botschaft zu übertragen. Ich möchte schließlich nicht das Selbstwertgefühl meines neuen Mitbewohners direkt zerstören, ich erhoffe mir nämlich trotz Störung eine lange Zusammenarbeit. Vor allem, weil ich den Kassenbon bereits entsorgt habe.

Und doch klopft er heute wieder, mein innerer Kritiker. Will mich vor Misserfolgen schützen, will dass ich geliebt werde und ja ich weiß, er meint es gut mit mir, aber für heute werde ich ihn ignorieren…