Liebe Freundin…

heute stand ich an einer Verkehrsampel. Und sie war mit einem Aufkleber versehen, auf dem eine schlichte und leicht verständliche Aufforderung stand: „Sei kein Arschloch.“ Weiß auf lila Hintergrund. Und wie passend platziert. Schließlich neigen wir Menschen besonders beim Autofahren dazu uns in besagte Arschlöcher zu verwandeln. Dann wurden die Straßen nur für uns gebaut und offensichtlich hat jede Fahrschule auf dieser Welt versagt, außer natürlich die eigene. So wird aggressiv gedrängelt, gehupt und gefährlich überholt. Ich fuhr also ein bisschen beschämt weiter, während ich an all die Situationen dachte, an denen ich womöglich selbst ein grandioses Arschloch war. Meine Mutter sagte einmal zu mir: „Wenn du im Stau stehst, ärgere dich nicht, sondern sei froh, dass du nicht der Stau-Verursacher bist.“ Und wie recht sie hat. Ich komme an diesem Tag womöglich zu spät, jemand anderes im schlimmsten Falle nie wieder. Und so spielen dennoch manche Tag für Tag mit ihrem eigenen höchsten Gut und auch mit dem der anderen. Unserem Leben.

Und während ich mich weiter durch den Verkehr schlängelte – schwitzend, weil meine Klimaanlage defekt ist und ohne jegliche Ablenkung, da mein Radio seit dem letzten Abklemmen der Batterie ebenso nicht mehr funktioniert – flogen auch meine Gedanken weiter und ich fragte mich, Leben, was ist das überhaupt? Und warum sind wir hier? Und damit meine ich nicht hier beim Schreiben dieses Briefes, sondern hier auf dieser Welt?

Eine Frage, die so groß ist, dass sie einem Angst machen kann. Und ich verfluchte mein nicht funktionierendes Radio, das meine Gedanken so hoch fliegen ließ. Auch der Verkehr war mittlerweile so dicht, dass alles zum Stehen gekommen war und es nichts weiter für mich zu tun gab als zu denken. Leicht benebelt von den Abgasen der herumstehenden Autos.

Über diese Frage, die wirklich jeden einzelnen Menschen auf dieser Erde betrifft. Und es gibt wahrscheinlich ebenso viele Antworten. Doch für viele ist es so beängstigend, dass sie sich lieber gar nicht damit beschäftigen. Oder eben erst dann, wenn wirklich etwas Dramatisches passiert. Eine schwere Erkrankung eines geliebten Menschen oder auch der plötzliche Tod durch einen Verkehrsunfall. Vorfälle, die uns zumindest für einen Moment zwingen hinzusehen. Auf unser Leben. Und die Frage warum wir eigentlich hier sind und ob wir tatsächlich so leben, wie es zu uns und der eigenen Persönlichkeit passt.

Und dabei ist es so wichtig überhaupt zu wissen, was wir wollen und wer wir überhaupt sind. Was bleibt von mir als Persönlichkeit übrig, wenn ich mich ohne meine Freunde, meinen Beruf und meine Habseligkeiten vorstelle? Wer bin ich dann? Denn dann bleibe wirklich nur noch ICH. Ich, die ich – warum auch immer – auf dieser Welt bin. Mit allen Rechten und Pflichten ausgestattet wie jeder andere Mensch auch. Nicht mehr und nicht weniger.

Doch um diese Frage zu umgehen haben wir uns eine Gesellschaft mit vielen Ablenkungsmöglichkeiten geschaffen. Es ist leicht. Ein Spiel. Und jeder möchte der Gewinner sein. Dabei verlieren wir uns selbst gerne mal aus dem Blick. So steigen wir Karriereleitern hoch, ohne zu überprüfen, ob es eigentlich das ist, was man wirklich will und was man sich für sein Leben vorstellt. Aber womöglich macht man jemand anderen stolz oder ist angewiesen auf dieses Gefühl von Anerkennung, das einen tiefen Glaubenssatz befriedigt, der einst geprägt wurde, um Zugehörigkeit zu empfinden. Oder womöglich tun manche auch genau das Gegenteil. Boykottieren ihren eigenen Erfolg, da sie sicher sind, sie haben es nicht verdient. In uns stecken unendlich viele Möglichkeiten uns selbst zu begrenzen, etwas vorzumachen und uns davon abzuhalten, der- oder diejenige zu sein, wer wir wirklich sind.

Wir lassen uns leiten von unseren Egos, die nach gesellschaftlichem Ansehen, Anerkennung, Sicherheit und Zugehörigkeit streben. Unsere Seelen bleiben dabei stumm.

Doch wirklich glücklich können wir erst sein, wenn wir genau diese zu Wort kommen lassen und das tun, was uns ausmacht.

Mütter und Väter zu werden, weil wir uns von Herzen wünschen ein neues Leben auf diese Welt vorzubereiten, um es dann loszulassen, und nicht weil es den nächst logischen Schritt in einer Beziehung bedeutet oder man sich womöglich durch die eigene Angst, im Alter allein zu sein, selbst begrenzt.

Einen Beruf auszuüben, der seinen Talenten entspricht und nicht einen anderen, da dieser vermeintlich mehr Ansehen oder Geld einbringt.

Als ich mich einmal auf das Abenteuer „Tinder“ einließ, war ich überwältigt von all der Pracht meiner potentiellen Dates. Mindestens jeder zweite hatte bereits die halbe Welt bereist und wollte damit mächtig Eindruck schinden. Das ging mir irgendwann so sehr auf die Nerven, dass ich verzweifelt nach einer „Coach-Potato“ Ausschau hielt. Nicht, weil es besonders gut zu mir passen würde, es kam mir nur sehr erfrischend vor zwischen all den „hippen“ Weltenbummlern. Dabei habe ich auf meinen eigenen Reisen bereits immer wieder feststellen müssen, dass Reisen alleine nicht gleichzeitig ein offeneres Mindset, Kultiviertheit oder eine größere kognitive und emotionale Intelligenz bedeuten, wie häufig allgemein dargestellt. Nicht alle sind wirklich interessiert an den Dingen, die ein Land ausmachen. Oder haben den Mut sich auf alle Facetten einzulassen, die nicht immer nur angenehme Gefühle hinterlassen können. Manche sind eher daran interessiert, einfach ein nächstes exotisches Land auf ihrer Liste abzuhaken, gleich einer weiteren Challenge in unserer leistungsorientierten Gesellschaft. Denn meist gilt leider, umso mehr umso besser. Und auch das ist gut, wenn es wirklich das ist, was sie von Herzen ausmacht und erfüllt. Nicht jeder möchte in die Kulturen eines Landes eintauchen, sondern die Fremdartigkeit im Schutze des Gewohnten genießen und das ist ebenso richtig. Solange man dabei authentisch und ehrlich zu sich selbst und seinem Gegenüber bleibt.

So bewundere und schätze ich genau die Menschen, die wissen, wer sie sind und was sie glücklich macht. Und danach leben, ohne sich von der Meinung anderer beeinflussen zu lassen. Authentisch und echt. Das macht für mich eine besondere, reife, reiche und weise Persönlichkeit aus. Sei sie nun Weltenbummler, „Listenabhaker“ oder Dauercamper im Nachbarort gelegenen Campingplatz. Und damit hat auch alles gleich viel Wert.

Natürlich ist es eine große Herausforderung zu erkennen, wann genau unsere Entscheidungen durch eigene Begrenzungen aufgrund tiefer Glaubenssätze oder Ängste getroffen werden oder aufgrund dessen, was unserem eigentlichen Wesen entspricht.

Und dabei können uns Begrenzungen in unserer Komfortzone gefangen halten, wo wir nie Weiterentwicklung erfahren werden. Diese ist nämlich erst außerhalb möglich, solange wir dabei keine Überforderung erleben. Und Entwicklung ist wiederum wichtig, um da hin zu kommen, was uns aus und glücklich macht. Frei von allen äußeren Einflüssen und inneren Begrenzungen zu entscheiden, ob für einen persönlich neblige oder vertraute Wege die passenderen und somit besseren sind. Und dann glücklich zu werden. Denn wenn man glücklich ist, weil man genau das tut, was einem entspricht, müsste man sich selbst nicht mehr darstellen und auch andere nicht mehr beneiden, sondern könnte sie mehr so annehmen wie sie einfach sind. Mit den gleichen Rechten und den gleichen Pflichten. Nämlich Respekt vor sich selbst, der Welt und jedem einzelnen anderen Lebewesen auf dieser Erde. Womöglich wäre ein friedlicheres Miteinander möglich und wir müssten tatsächlich weniger Arschloch sein.