Liebe Freundin…
gestern war ich auf einer Flamenco–Veranstaltung und die hat mich in einen magischen Bann gezogen. Der kraftvolle Auftritt der Tänzerin begleitet von diesen besonderen Gitarrenklängen und Gesängen… und dann ärgere ich mich, dass ich mein letztes Flamenco–Training schon wieder versäumt habe. Das hätte vielleicht ich sein können auf dieser Bühne, bejubelt mit lauter spanischen Ausrufen, die ich nicht kenne, da ich meinen Spanischkurs zwar voller Elan begonnen habe, dann aber irgendwas dazwischen kam, was mir dann doch mehr Freude bereitete.
Mittlerweile genieße ich eine wundervolle Freundschaft mit meinem ehemaligen Spanischlehrer, der außerdem fantastisch kochen kann und ganz locker bei Sprachbarrieren für mich übersetzt. Und ebenso hätte ich um nichts auf der Welt diese spontane, wundervolle Zeit mit dir und deiner Familie versäumen wollen, auch wenn ich dadurch mal wieder auf ein Training verzichtet habe, das mich womöglich näher an den Traum von einer inspirierenden Tänzerin gebracht hätte.
Aber ich fürchte, so bin ich einfach nicht. Ich besitze mittlerweile drei Gitarren und das Wissen um fünf Akkorde, die ich tatsächlich recht gut spielen kann, die mich aber auf keine Bühne dieser Welt bringen werden. Doch ist das schlecht? Oder doch gut, dass ich beide Erfahrungen machen durfte, das Anschlagen der Gitarre und im Rhythmus dazu in meinen Flamenco-Schuhen zu tanzen?
Wenn ich in meinen Keller gehe, finden sich allerlei Helme… beginnend beim Motorradhelm, über den Snowboardhelm, Kletterhelm, Fahrradhelm bis hin zum Reithelm. Dazwischen liegt die Tauchausrüstung neben meinen Salsa-Schuhen, den Badminton-Schlägern und Rollschuhen. Was davon ich beherrsche? Nichts. Dafür eine Fülle an Erfahrungen, wenn auch nicht immer freudige. Wie ätzend ich Schlittschuhlaufen finde, hat mir erst deine Tochter gespiegelt, nachdem ich ihr mit einem Ausflug in die Eishalle eine Freude machen wollte und wir letztendlich nach frustrierenden zwei Stunden unsere Tränen bei einer heißen Schokolade trockneten. Was für ein riesen Mist. Da sitze ich dann doch lieber in der Menge und jubele.
Mein guter Freund und Nachbar ist leidenschaftlicher und erfolgreicher Formationstänzer. Und ich sein größter Fan. Nach jedem seiner Auftritte möchte ich ihm die Kleider vom Leib reißen. Wie unglaublich anziehend, wenn jemand etwas so gut kann. Doch wenn ich mich am Wochenende gerade aus dem Bett schäle, um mir den ersten Kaffee zuzubereiten, um anschließend direkt wieder zurückzukriechen, höre ich meist seine Wohnungstür auf und zu gehen, weil er bereits auf dem Weg zum nächsten Training ist. Ich mache derweil die Erfahrung von Kaffee im Bett, Kaffeeverschütten im Bett und wie lange es dauert bis eine Matratze getrocknet ist.
Intimwaxing?
Kein Problem, auch über diese höchst traumatische Erfahrung kann ich ausführlich berichten.
Mein Nachbar vielleicht nicht.
So gibt es immer zwei Seiten einer Medaille. Und wenn wir endlich aufhören würden, alles gut oder schlecht zu bewerten, sondern uns schlicht für eine Seite entscheiden, die uns einfach die größtmögliche Freude bereitet und damit in jedem Fall gut für uns ist, dann glänzen beide.
Mein Leben lang habe ich unter meinem (zu) kurzen Zeh gelitten. Als Kind war es mir unmöglich offene Schuhe zu tragen. Meine eigene Bewertung war düster und meine Füße im Sommer viel zu heiß und schwitzig. Bis in meinem Erwachsenenleben jemand kam und mir erzählte wie schön und sogar sexy meine Füße sind. Okay. Bewertungskriterien scheinen wohl nicht allgemein gültig zu sein. Woher kommen also meine? Warum nutze ich nicht seine? Meine Füße würden die Freiheit genießen.
Wieder etwas, das nur in unseren Köpfen stattfindet. Einteilungen, die wir aufgrund von Erfahrungen unternehmen oder weil wir sie von Personen übernommen haben, die uns als Vorbild schienen.
Also deute ich um und trage nun meine Füße stolz in Sandalen vor mir her. Was für ein Gefühl von Freiheit, herrlich.
Natürlich sind Bewertungen nicht grundsätzlich verwerflich. In einen reißenden Fluss zu springen, nur aufgrund meiner Liebe zu wilden Wellen, könnte äußerst ungünstig für mich ausgehen. Es sei denn natürlich Andreas Marthaler von den Bergrettern stünde am Ufer, um mich aus den Fluten zu ziehen. Dann würde ich es vielleicht noch einmal neu bewerten und den Sprung wagen.
So genießt nun aber mein Nachbar seinen wohlverdienten Applaus nach jeder Show und ich bestaune dafür nicht nur Tänzer, sondern auch Basketballer, Klavierspieler, Sänger und wer auch immer die Medaille umgekehrt zu meiner trägt und erfreue mich an diesen vielfältigen Erfahrungen und meinem Kaffee im Bett. Das nächste Mal mit Unterlage.