Liebe Freundin…

die Zeit vergeht so schnell… zumindest höre ich das von allen Seiten. Und manchmal denke ich, es ist tatsächlich so. Werde regelrecht panisch davon verfolgt. An anderen Tagen oder in anderen Situationen wiederum denke ich das überhaupt nicht. Zum Beispiel wenn am Ende meines Gehaltes noch so unglaublich viel Monat übrig ist. Oder ich schwitzend in der 90° warmen Sauna sitze, kurz vor der Ohnmacht, mein Stolz es jedoch nicht zulässt weniger als 15 Minuten auszuharren. Natürlich auf der obersten Bank, die Sanduhr fest im Blick in der Hoffnung dieser verdammte Sand möge doch ein wenig schneller rieseln.

Ich setze mich also auseinander, mit der Zeit. Und zusammen, mit meinen Fotoalben. Die sich natürlich auf meiner Festplatte befinden und nicht wirklich in einem Album aus grifffestem Papier, denn dafür fehlte mir seither natürlich die Zeit. Oder die Lust? Vielleicht hatte es auch einfach keine Priorität.

Ich öffne also das vergangene Jahr. Frage mich wieviel Zeit in so einem Jahr steckt, das angeblich so schnell vorbei geht. Und ich freue mich über all die zweitausenddreihundertneunundachtzig!!! Fotos. Fahre gedanklich noch einmal auf einem Floß durch die Flüsse Polens, feiere mit dir und deinen Kindern meinen Geburtstag in unserem urigen Hausboot in Holland, zähle jeden einzelnen Aperol auf den unzähligen Selfies jeglicher Feiern und Feste. Springe erneut in die Wellen vor der Küste Gran Canarias und genieße die Klänge diverser Künstler in verschiedenen Kleinkunstkellern auf meinen Kurz-Videos.

Stunden später und angefüllt mit tausend Erinnerungen bin ich beeindruckt davon wie viel Zeit und Leben in so einem Jahr stecken. Dabei machen diese zweitausenddreihundertneunundachtzig Fotos nur einen Bruchteil aus. Nicht jeder Moment scheint uns wert fotografisch festgehalten zu werden. Aber auch nicht jeder Moment gibt fairerweise ein optisch ansprechendes Motiv her. Emotional jedoch merke ich rückblickend wie viele Erinnerungen ich habe, die auf meinen Fotos gänzlich fehlen, mein Leben aber so unendlich bereichern. Der Gastwirt zum Beispiel, der mich bei Wind und Regen auf der Straße angesprochen hatte, als ich völlig zerzaust und durchgefroren auf dem Weg zu meinem Auto war, und fragte, ob er mir helfen könne. Und ich ihn frech zurückfragte, ob er ein warmes Essen für mich habe. Er zauberte mir ein herrliches Menü aus Knoblauchgarnelen, Gemüse, frischem Baguette und dazu trank ich ein frisch gezapftes erfrischendes Bier. Aufs Foto hat es dieser Moment nicht geschafft. Meine nass am Kopf klebenden Haare hätten das nicht zugelassen. Schon gar nicht mein Hunger, der mich alles herunterschlingen ließ, bis mir überhaupt in den Sinn kam, ein Foto zu schießen. So verbleibt dieser Moment nicht in meinem Album, dafür in meinem Herzen. Und dort stöbere ich weiter. In meinem Herzen. Nach Herzensmomenten eben. Zur Hilfe nehme ich mir mein Tagebuch. Und viele weitere Stunden später bin ich einfach nur berührt. Von diesen unzähligen Blitzlichtern des Alltags. Das nette Gespräch, das ich mit einer Kassiererin an der Kasse einer kleinen Galerie hatte. Das Gemälde wie ein kleiner Erinnerungsanker an meiner Wand. Tiefe, bereichernde Gespräche mit dir auf deinem Sofa, während die Kinder mal mehr oder mal weniger geschlafen haben. Kein Foto. Dafür ein Gefühl von bedingungsloser Liebe. Würde ich all diese Dinge aufschreiben, würde ich ewig hier sitzen. Vermutlich ungefähr ein Jahr. Vielleicht sogar mehr, wenn ich noch all die Emotionen aufzählen würde, die mich dabei begleitet haben. Eine meiner Lieblingserinnerungen des letzten Jahres ist der Abend, an dem ich mit deinen Kindern kreativ einen Maultaschen-Flammkuchen zubereitete. Total berührt konnte ich nicht fassen, wie groß diese Kinder mittlerweile sind. So groß, dass ich Tipps über die passenden Gewürze von diesen Zwergen erhalte, denen ich doch erst vor kurzem noch voller Ekel die Windeln gewechselt habe. War das nicht gefühlt erst gestern?

Nein. Das war es nicht.

Dazwischen liegt ein Ozean voller Erinnerungen und Emotionen. Leichte, schwere, glückliche und herausfordernde. Alle gekommen und auch wieder gegangen, sobald ich sie losgelassen habe, um Platz für neue zu machen. Die glücklichen und auch die weniger glücklichen.

Ich stelle also fest, Zeit ist weder schnell, noch langsam. Sie will lediglich gefüllt und beachtet werden. Und das mit allen Sinnen. Sie will gehört, gesehen, gefühlt, gerochen und geschmeckt werden. Einfach achtsam wahrgenommen in jedem Moment. Dann haben wir die Möglichkeit Dinge zu erleben, die täglich in unserem Leben passieren, ohne dass wir sie geplant haben. Manchmal durch Aufgaben, denen wir uns niemals freiwillig gestellt hätten, weil sie zu schmerzhaft waren. Wir andernfalls jedoch nie die Chance gehabt hätten, daran zu wachsen. Manchmal aber auch schöner und aufregender als wir sie uns hätten ausmalen können.